Keinen Sex bitte, wir sind ein Paar!
Ist uns Liebe einfach wichtiger als Sex?
Ihre
Finger spielen mit seinen. Immer wieder lachen
sie einander an. So, wie es nur Paare machen, denen das Paarsein auch
nach Jahren nicht langweilig geworden ist und die neugierig aufeinander
geblieben sind.
"Am meisten liebe ich diesen einen schiefen Vorderzahn",
sagt Anne. "Und seine verdammt gute Fußmassage. Wenn ich
die Wahl habe zwischen Massage und Sex, weiß ich, wie ich mich
zu entscheiden habe."
Geschlafen hat die 34-Jährige schon lange nicht mehr mit ihrem
Peter, 36. "Ich muss wirklich überlegen, wann das zum letzten
Mal war", grübelt sie. "Ach ja, Anfang Juni, als wir
in Prag waren." Eines steht für sie beide aber fest: Mit einem
Tief in ihrer achtjährigen Ehe hat diese Lustlosigkeit nichts zu
tun. "Völliger Quatsch", sagt Peter, "natürlich
lieben wir uns. Ich bin verliebt in ihre Nackenhaare. Wenn wir uns ansehen,
wissen wir, was der andere gerade denkt, und wir können immer noch
viel miteinander lachen. Das sind die echten Höhepunkte unserer
Liebe nicht irgendwelche Orgasmen."
Wie Peter und Anne empfinden mittlerweile viele. Offenbar geht es in
Beziehungen kaum noch um Sex. Die Deutschen haben davon jedenfalls immer
weniger. Dramatisch weniger. Laut dem Durex Global Sex Survey, einer
der größten seriösen Sexumfragen, ging es bei den deutschen
Paaren 2003 nur noch halb so oft zur Sache wie 2002. Tendenz: weiter
fallend. Gunter Schmidt, renommierter Sexualtherapeut an der Universitätsklinik
Eppendorf in Hamburg, fand sogar heraus, dass seit 1981 "die Sexaktivitäten
drastisch zurückgehen". Damals gaben Paare noch an, ungefähr
jeden zweiten Tag Liebe zu machen. Schmidt: "Heute schläft
die Hälfte der Paare seltener als einmal pro Woche miteinander."
Lustverlust ein internationales Phänomen
Auch anderswo scheinen den Menschen die erotischen Bedürfnisse
abhanden gekommen zu sein.
In den Niederlanden gibt jeder Dritte an, keine Lust mehr auf Sex zu
haben. Laut US-Nachrichtenmagazin Newsweek haben 15 bis 20 Prozent aller
113 Millionen amerikanischen Ehepaare nicht mehr als zehnmal Sex
pro Jahr! Und die britische Sunday Times befasste sich Anfang September
mit der Lust der Jüngeren und titelte: "No sex please, were
twenty".
Am Alter kann es nicht liegen, dass in den Schlafzimmern zwar schnell
das Licht gelöscht wird, dann aber Kuscheln und keusche Gutenachtküsse
den Abend beenden. Paare haben zurzeit zwar nicht unbedingt Besseres,
aber offenbar Wichtigeres im Kopf. Sie machen sich Sorgen um ihre Zukunft,
sind im Job so sehr gefordert, dass sie sich abends schon zu müde
fühlen, um noch ein Buch zu lesen, geschweige denn Verführungstricks
anzuwenden, viele Frauen müssen mit ihrer Doppelbelastung als berufstätige
Mütter zurechtkommen. "Die Zeit rast nur so", beschreibt
Petra, 38, ihr aktuelles Lebensgefühl. "Ich war viel zu lange
Single, um jetzt in der Ehe mein eigenes Leben komplett aufgeben zu
wollen. Natürlich will ich weiter Karriere machen und abends immer
noch zur Pilates-Stunde gehen. Wenn wir beide endlich zu Hause sind,
sind wir froh, ins Bett fallen zu können. Zum Schlafen!"
Das Ding namens DINS
Ein Lebensrhythmus, der vielen bekannt vorkommt. Unser Tagesablauf ist
voll gepackt mit Notwendigem, aber auch Schönem. Es ist,
als würde auf unseren privaten To-do-Listen der Sex immer weiter
nach hinten wandern.
Das Merkwürdige daran: Es scheint uns nicht besonders zu stören.
Sicher, Petra, Abteilungsleiterin in einem Sportgeschäft, und Rainer,
Prokurist bei einer Versicherung, hatten zuerst schon Zweifel, ob etwas
nicht stimmt mit ihrer Beziehung. "Insgeheim fragt man sich ja
doch, ob man den anderen nicht mehr begehrt oder ob der Sex mit ihm
einfach zu langweilig ist", weiß Petra. "Aber damit
hat das nichts zu tun. Sonst würde ich wahrscheinlich fremdgehen.
Das habe ich bei früheren Freunden ja auch getan. Aber Rainer ist
der Richtige. In unserer Beziehung spielt Vertrauen eine riesige Rolle.
Er ist mein bester Freund. Ich weiß auch nicht, wie man unser
Ding nennen soll."
Experten schon: DINS. Denn nach den Yuppies (Young urban professionals)
in den Achtzigern und den Dinks (Double income no kids) der Neunziger
wird die Generation des neuen Jahrtausends mit "Double income no
sex" umschrieben. Der Begriff beruht sogar auf wissenschaftlichen
Studien. Forscher der Universität Chicago befragten beinahe 3500
Männer und Frauen (Singles und Paare) nach ihren Lebens- und Sexrhythmen.
Dabei stellte sich heraus, dass vor allem besser verdienende Paare im
Job Gas geben und im Bett auf die Bremse drücken.
Bücher zum Thema wurden in den USA sofort Bestseller, homöopathische
Medikamente, die versprechen, wieder Sex in die Ehe zu bringen, waren
sofort ausverkauft. Allein die Pille "Avlimil" verkaufte sich
im ersten Monat nach der Markteinführung 200 000-mal. "Es
ist nicht klar, ob die Anzahl der sexlosen Ehen zugenommen hat
oder ob jetzt einfach offener darüber gesprochen wird", erklärt
Therapeutin Michele Weiner Davis, Autorin von "The Sex-Starved
Marriage", dem Kultbuch zum Thema.
Nähe statt Orgasmus
Wie frustrierte, ausgetrocknete Paare wirken die meisten DINS allerdings
nicht. Schon eher scheint sich eine Art Wertewandel vollzogen zu haben.
"Ich glaube, dass Müdigkeit nicht ausschließlich der
Grund dafür ist, dass viele Paare nicht mehr miteinander schlafen",
sagt der Sexologe Henry van Weil. "Sex zu haben kostet ganz wenig
Energie. Im Gegenteil. Menschen, die unter Stress stehen, könnten
dadurch sogar entspannen. Eher geht es darum, dass sich bei vielen Paaren
die Prioritäten verändert haben." Man weiß zwar,
wie man einander im Bett glücklich machen kann. Aber man kennt
auch andere Gemeinsamkeiten, die sogar noch intensivere Empfindungen
auslösen können und an die man länger zurückdenkt
als an die Nächte voller Leidenschaft. In Phasen voller Terminkalender
genießen Paare verstärkt ihre Zweisamkeit. "Wir sind
beide so viel unterwegs", erinnert sich Katja, 32, "dass wir
froh sind, wenn wir uns das ganze Wochenende über einigeln. Nähe
gibt mir Kraft. Nicht ein multipler Orgasmus." Vielleicht ist es
auch so, dass wir erkannt haben, wie austauschbar Sex geworden ist.
Wir können ihn mit jedem erleben, überall, jederzeit. Aber
wäre auch der Herbstspaziergang, der eingemummelt in dicke Decken
mit einer heißen Schokolade endet, mit jedem genauso schön?
Das Bild, das wir nach außen vermitteln, ist oft noch ein anderes.
Freundinnen verdrehen die Augen, wenn sie mit "so einem Kitsch"
ankommt, und er versucht erst gar nicht, seinen Kumpels zu erzählen,
dass er die Barolo-Abende mit ihr lieber mag als Blowjobs. Schon eher
mehrheitsfähig ist die Antwort, man hätte zwei- bis dreimal
pro Woche Sex, natürlich immer schweißtreibend und sensationell.
Wie oft ist normal?
Die Mehrheit von uns will dem entsprechen, was uns von den Medien eingebläut
wird. Im Fernsehen leiden die Hauptdarsteller nie an Lustlosigkeit.
Die Generation DINS hat noch kein Forum à la "Sex and the
City".
Im Gegenteil: Selbst Ruth Fisher, die zerknitterte Witwe in "Six
Feet Under" bekommt in jeder Folge verlässlich ihren Orgasmus
ab. Verlöre man da nicht sein Gesicht, beriefe man sich auf Boy
George, der dem Sex eine Tasse Tee vorzieht?
"Um ehrlich zu sein, wir wissen nicht, was normal ist", sagt
Pepper Schwartz, Autorin von "Vergessen Sie alles, was Sie über
Liebe und Sex wissen, und lesen Sie dieses Buch!" (Rowohlt)
es gibt keine Regeln dafür, wie viel Sex in einer Beziehung "notwendig
und richtig" ist. Sie selbst glaubt: Im ersten Jahr einer Beziehung
haben die meisten Paare dreimal pro Woche Sex. Weil es sich so gehört.
Sobald die Partner aber das Gefühl haben, es sei an der Zeit, selbst
zu entscheiden, was ihnen gut tut, und die Fassade nicht mehr aufrecht
erhalten zu müssen, schlafen sie höchstens einmal pro Monat
miteinander. Schwartz: "Und das sind Paare, die sich mögen!"
Das muss uns nicht beunruhigen: So lange auf unserer To-do-Liste die
Liebe weiter ganz oben steht, ist der Weg, wie wir sie genießen,
egal. Und für manche ist Glück eben eine gute Fußmassage.
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