Er betrügt sie - mit ihm
Welche Frau denkt sich schon etwas dabei, wenn ihr Mann sich mit dem
besten Kumpel trifft?
Mittwochs kommt er immer früher nach Hause, damit sie sich zeitig
fertig machen kann für ihren Weiberabend. Er gibt ihr einen Abschiedskuss
und winkt ihr hinterher, wenn sie aus der Garage fährt. Sie winkt
zurück stolz, einen Mann zu haben, der ihr Zeit für
sich selbst gönnt. Mittwochs kommt er immer früher nach Hause,
damit sie sich zeitig fertig mache
Er bringt Tochter Hanne ins Bett, wartet, bis die Einjährige endlich
schläft, trinkt noch ein drittes Glas Chardonnay und setzt sich
auf die weiße Ledercouch im Wohnzimmer. Endlich allein. Nach einer
Weile überprüft er noch einmal, ob die Kleine wirklich schläft.
Leise zieht er die Tür zu, holt das tragbare Telefon aus dem Flur
und wählt eine Nummer. Am anderen Ende der Leitung nimmt sofort
jemand ab. "Ich bins", flüstert er. "Sie ist
weg!"
Seit mehr als einem halben Jahr betrügt Dirk (alle Namen von der
Redaktion geändert) seine Frau. Zum ersten Mal in seiner 15-jährigen
Ehe, darauf legt der 38-Jährige Wert. Vor allem aber: mit einem
Mann. Claas ist sechs Jahre jünger als Dirk und schwul. Dirk kann
noch immer nicht glauben, dass ihm das passiert ist. Ausgerechnet ihm,
dem Bankdirektor, dem Vorsitzenden des Lions Club in seiner Heimatstadt.
Ihm, der bisher noch bei jeder Betriebsfeier mit den Frauen geflirtet
hat. Dirk greift sich in seine akkurat geföhnten, blonden Haare.
Er trägt einen dunkelblauen Anzug und eine karierte Burberry-Krawatte.
Ein wenig sieht er aus wie Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust.
Er hat einen Schirm dabei obwohl die Sonne scheint. Heute Morgen
haben sie im Radio Regen angekündigt.
An seinem Geburtstag, ungefähr vor einem halben Jahr, haben sie
sich in einem Gay-Chatroom kennen gelernt. "Nur zum Spaß"
sei Dirk dort einmal reingesurft. Unter dem Nickname "Bikerboots"
hat er sich eingeloggt und wahllos "Kerlblondbehaart" angeklickt.
"Trägst du Cowboystiefel?" war die erste Frage, die Dirk
dem Unbekannten gestellt hat.
Das erste Mal
Seit er 14 ist, wünscht sich Dirk, Sex mit einem Mann zu haben
Seit er 14 ist, wünscht sich Dirk, Sex mit einem Mann zu haben,
der Cowboystiefel trägt. Damals erregte ihn ein Schulfreund, der
von seinen Eltern aus den USA Cowboyboots mitgebracht bekommen hatte.
Seitdem lässt ihn der Gedanke nicht mehr los.
24 Jahre später wurde diese Phantasie Wirklichkeit. Eine Woche
nach dem Chat haben sich Claas und Dirk getroffen. Beim Italiener, direkt
gegenüber der Oper. Dirk war nervös wie selten zuvor in seinem
Leben. "Was mache ich da?", fragte er sich auf dem Weg zum
Date. Doch mit der Aufregung war es sehr schnell vorbei. "Ich fand
ihn vom ersten Augenblick an sehr scharf", gibt Dirk zu. Claas
trug Turnschuhe, Dirk karierte Boxershorts von Ralph Lauren. "Die
Boots ziehe ich erst im Bett an", sagte Claas. Bereits beim Hauptgang
besprachen sie die Spielregeln ihrer Liaison: Niemand darf von unserer
Affäre erfahren! Ich werde mich auf keinen Fall von meiner Familie
trennen! Und: Wir wollen es luxuriös versaut angehen!
Nach dem Essen hat Dirk Claas nach Hause gefahren. Zum ersten Mal in
seinem Leben hat er mit einem Mann geknutscht. "Es war irre. Viel
kräftiger als mit einer Frau." Als er ausstieg, fragte Claas:
"Willst du, dass das Spiel beginnt?" Dirk nickte. Seitdem
treffen sich beide mindestens zweimal im Monat, übernachten im
Fünfsternehotel und haben Sex. Manchmal holt Dirk seinen Liebhaber
auch überraschend vom Job ab. "Dann bläst er mir einen
auf dem Parkplatz." Dirks Frau bekommt davon nichts mit, er ist
ja öfter auf Dienstreise. Schuldgefühle gegenüber seiner
Familie hat er nicht. "Das sind zwei Paar Schuhe!" Sicher,
er wundert sich, dass er so einen Satz zuwege bringt. "Manchmal
rede ich mir ein, ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Aber
da ist nichts. Dabei bin ich eigentlich gar kein Arsch."
Trotzdem hetero?
Der legendäre Kinsey Report stellte sogar die provokante These
auf, 46 Prozent aller Menschen hätten bisexuelle Neigungen
Trotzdem: Zu seinen Neigungen öffentlich stehen will er nicht.
Was weniger mit dem Ehebruch ("Ich kenne vier Kollegen, die auch
fremdgehen") als vielmehr mit der "seltsamen Veranlagung"
zu tun hat.
Ein Outing, bildet Dirk sich ein, könnte er sich nicht leisten,
weil er neben seiner Familie auch das Ansehen im Berufs- und Gesellschaftsleben
verlieren könnte. Andererseits hat er überhaupt keine Probleme
damit, mit Claas im Hotel oder Restaurant gesehen zu werden. "Bei
mir kommt keiner drauf, dass ich Sex mit ihm habe. Claas stelle ich
als Freund oder Kollegen vor." Seine private Telefonnummer hat
er dem Lover nicht gegeben. "Mir ist lieber, wenn ich ihn anrufe."
Wie es mit der Affäre weitergeht, weiß Dirk nicht. "Die
Lust auf den anderen wird immer größer!" Dennoch macht
er seine Begierde an Claas als Person fest nicht an der Tatsache,
dass er ein Mann ist. Und klammert sich deshalb an den Satz: "Ich
bleibe heterosexuell!"
Das sagen die meisten. Bei einer repräsentativen Studie über
das sexuelle Verhalten der Bundesbürger gaben gerade mal 3,4 Prozent
der befragten Männer zu, bisexuell zu sein. Dabei gehen Experten
davon aus, dass 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung bisexuell sind.
Der legendäre Kinsey Report stellte sogar die provokante These
auf, 46 Prozent aller Menschen hätten bisexuelle Neigungen
mitgezählt wurden dabei allerdings auch einmalige homoerotische
Erfahrungen sowie sexuelle Phantasien.
Die Hemmschwelle, diesen Neigungen nachzugeben, sinkt rapide. Nach
Feierabend sind die Chatrooms im Internet überfüllt. Allein
bei www.gaychat.de surfen über 250000 registrierte User. "Drei
Viertel davon sind bisexuell", glaubt ein Branchen-Insider. Hier
können sich Neugierige unerkannt informieren und feststellen, dass
es genügend Gleichgesinnte gibt. Täglich werden so tausende
Sex-Dates ausgemacht, Verabredungen getroffen oder Adressen ausgetauscht,
die als Homo-Treffpunkte bekannt sind.
Die neue Sexualität
Keine Frage: Homosexuelle sind weitestgehend akzeptiert
Gehörte es unter heterosexuellen Männern vor ein paar Jahren
noch zum guten Ruf, sich über "Warmduscher" lustig zu
machen, haben heute mittlerweile fast alle einen Schwulen im Freundes-
oder Bekanntenkreis.
Prominente wie Til Schweiger oder David Beckham leben vor, dass nichts
dabei ist, auch mal mit dem Kumpel zu kuscheln. Selbst im Hauptabendprogramm
ermittelt in der Sat.1-Serie "Mit Herz und Handschellen" ein
schwuler Kommissar. Keine Frage: Homosexuelle sind weitestgehend akzeptiert
und Heteromänner müssen immer weniger Angst davor haben,
sich ihren Trieben gegenüber dem eigenen Geschlecht hinzugeben.
Dass daran aber auch Männerfreundschaften kaputt gehen können,
weiß BWL-Student Mike, 24, aus Stuttgart. Er hat einen muskulösen
Körper, Dreitagebart, dunkle Haare und ist der Beste in seinem
Semester. "Ich kann jede haben", behauptet er und hat
damit wahrscheinlich sogar Recht.
Ende März verabredet er sich mit einem Freund aus der Basketballmannschaft
zu einem gemütlichen DVD-Abend. Sie trinken Bier und schauen "Fight
Club" mit Brad Pitt. Während des Films fängt Mikes Freund
plötzlich an, sich die Hose zu öffnen. Mike spürt, wie
ihn das erregt. Er zieht seine Jeans auch aus, die beiden küssen
und befummeln sich und kommen gleichzeitig. "Einfach geil
und hemmungslos. Es hatte was von einer Rangelei." Hinterher ist
ihnen der Zwischenfall peinlich, Mikes Kumpel zieht sich schnell an,
geht grußlos. Seitdem haben sie nie mehr miteinander gesprochen.
Mike ist immer noch verwirrt: Will ich wirklich einen Mann?
Am Wochenende war Mike zum indischen Abend bei einer Verehrerin eingeladen.
Sie trug einen Sari und setzte ihm einen Turban auf. Süß.
Nach dem Chicken-Curry schliefen sie miteinander. Als er nachts neben
ihr lag, fragte er sich, ob er nicht doch lieber den einfacheren Weg
gehen und die indische Maus zur Freundin nehmen sollte. Doch kaum war
er wieder zu Hause, loggte er sich in einen Chat mit Jungs ein. "Es
ist eine Sucht", gibt er zu und ist peinlich berührt,
wenn er während des Gay-Chats eine SMS von der indischen Maus bekommt:
"Danke für den romantischen Abend. Mag dich."
Halbe Sache ...
Die Geschlechtsoffenheit in den liberalen Großstädten nimmt
zu
Dabei machen sich im Chat viele über einen wie ihn lustig. Bisexuelle,
glauben die meisten Gays, sind feige Schwule, die sich nur nicht trauen,
zu ihren Gefühlen zu stehen. Mike sieht das anders. "Wahrscheinlich
bin ich weder schwul noch hetero!"
Nach Meinung des Hamburger Sexualwissenschaftlers Prof. Gunter Schmidt
wird sich die Einstellung, in keine sexuelle Schublade gesteckt werden
zu wollen, durchsetzen: "Die Geschlechtsoffenheit in den liberalen
Großstädten nimmt zu. Vielleicht wird in Zukunft häufiger
nach erotischer Aura oder Flair ausgesucht werden als nach dem Geschlecht."
Leichter gesagt als umgesetzt. Denn viele verheiratete Männer
leiden unter enormen Gewissensbissen, wenn sie erkennen, auch dem eigenen
Geschlecht zugeneigt zu sein. "So richtig gut geht es mir nicht",
sagt Jörn, 29. Seit fünf Jahren ist der Molekularbiologe aus
Mainz verheiratet, seine Katja kennt er schon "seit dem Kindergarten".
Sie haben ein gemeinsames Handy, einen Computer. Doch seine Webcam hat
er vor ihr versteckt. Und sicherheitshalber auch die Digitalfotos von
sich im grünen Slip gelöscht. "Ich habe Angst, dass sie
doch mal in meinen Ordnern kramt."
Denn Jan sucht "als verheirateter Hetero" im Internet fast
täglich nach Männern, die er mit einem Blow-Job "verwöhnen
kann". Jörn treibt es mit anderen vor laufender Webcam oder
unternimmt Radtouren ins Rheingau, wo er sich mit Männern verabredet.
"Ich kenne keinen wertvolleren Menschen als meine Frau. Ich liebe
sie und es läuft auch gut mit uns im Bett", sagt er. "Aber
Sex unter Männern ist brutaler und offener. Es macht mich einfach
viel mehr an, es mit einem fremden Mann zu tun." Ihr davon erzählen
kann er nicht. "Sie würde sich sofort von mir trennen."
Jörns Hoffnung, seine homoerotische Phase werde irgendwann vorbeigehen,
ist nicht unbegründet. Die Wissenschaft kennt viele Beispiele dafür,
dass Bisexualität nur eine Phase ist. Bei den Recherchen zu ihrem
Buch "Bisexuelle und ihre Einstellungen zur Liebe" (Verlag
für Wissenschaft und Forschung, 24,90 Euro) fand die Psychologin
Birgit Sunhilt Penninger heraus, dass 49 Prozent der Befragten erst
seit einem bis fünf Jahren bisexuell sind. Nur 22 Prozent bezeichneten
sich schon immer als bisexuell. 72 Prozent der Befragten lebten zuvor
heterosexuell.
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